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Die Gipfelstürmerin
(aus: Von weit her)

Centa war in einer vollständigen Dunkelheit aufgewacht. Das Doppelbett, in dem sie seit fast zwei Jahrzehnten alleine schlief, hatte auf einmal gepocht. Pawumm, Pawumm. Und dabei war sie sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt noch ein Herz hatte, das schlagen könnte. Es gab keinen Nachtschweiß mehr, keine Wunschträume, keine Alpträume. Sie griff mit der Hand neben sich, dorthin, wo Karl gelegen hatte. Der Holzrahmen vibrierte. Und dann fuhr sie unter das Kopfkissen, zur harten, kühlen Waffe, holte sie heraus und legte sie über die Brust unter dem rosa Baumwollnachthemd. Mit trockenen Augen starrte sie auf den Spalt, den die Vorhänge ließen, solange, bis er sich mit Helligkeit füllte. Heute war es soweit. Heute mußte einer dran glauben.

Sie legte die Waffe wieder zurück, stand auf, machte die Betten. Zog sich an. In der Küche schaltete sie das Radio an und suchte einen Sender, der ihr die Wahrheit erzählte. Ob nun auch die Kundgebung verboten war und was noch alles, ob sich überhaupt noch mehr als drei Leute in der Innenstadt versammeln durften.

Sie schliefen noch; junge Leute konnten das. Richtig ordentlich lagen sie in ihren Daunenschlafsäcken im Wohnzimmer, das Centa ihnen überlassen hatte. Zwei am Fenster, einer parallel zum Tisch, und auf der Couch der, der sie so an Christian erinnerte. Und daneben das einzige Mädchen. Centa zog die Tür leise wieder zu. Sie wollte nicht stören.

Sie hatte ganz rasch gehandelt, als die Meldungen sich stündlich geändert hatten. Schlag auf Schlag war es gegangen ...


Das Gewissen der Stadt

(aus: Nachtgeschichten)

Ohne Nora ist die Stadt anders. Ich zeichne mit den Wimpern die Silhouette nach, ihre bescheidene Skyline, falsches Schimmern im Süden, harter Glanz im Norden. Nirgendwo streicht jetzt Noras Mantel um die Ecken, aber ich, ich husche nach.

Nora war immer da, solange ich mich zurückerinnern kann. Sie war die Mohrrübe, ich der Esel, der hinterher lief, in sicherem Abstand, der sich niemals zu verändern schien, so sehr ich mich auch bemühte. Zeitlich versetzt durchliefen wir alle entscheidenden Stationen; ich versuchte schon früh, immer in ihrer Nähe zu bleiben, seitdem sie im Sandkasten einem Jungen die Plastikschaufel über den Kopf zog, der vorher einen Käfer ermordet hatte. Mir war nur mein lächerliches Weinen eingefallen. Nora war stets ein bißchen Mehr als ich und das lag nicht nur an den zwei Jahren, die sie älter blieb.

Im Kindergarten spielte Nora für den Elternabend ein Schneewittchen, groß und gelassen, das jeden Prinzen überflüssig machte. Ich war der kleinste und rundeste der Zwerge und kauerte an ihrem Rocksaum, blausamten, den ich mit meiner Faust festhielt. Und als ich ihr endlich in die Volksschule nachfolgen durfte, wie das damals noch hieß, gehörte ich zu denen, die während des Unterrichts aus Versehen vom Stuhl fielen, oder deshalb, weil sie gestoßen wurden. Zu denen, die man bestrafte, weil sie andere abschreiben ließen, die verspottet wurden, weil sie Kainsmale wie Brillen, rote Haarschöpfe oder zu weiße Söckchen trugen ...


Schnee in Berlin

(aus: Von weit her)

„Warum hast du die arme Frau denn nicht erlöst?“
Diese Frage kommt überraschend. Noch nie ist sie aus dem Publikum an mich gerichtet worden, denn das will meistens (auf welcher Niveaustufe auch immer) wissen, was denn nun wie autobiographisch ist. Oder aber eine Verbindung zu Kafka herstellt. Besonders überraschend kommt die Frage deshalb, weil ich sie mir selbst noch nie gestellt habe. Dabei führen meine Prosaheldinnen wirklich kein leichtes Leben, eher eines zwischen Mater Dolorosa und Heiliger Johanna. Habe ich ein grundlegendes Problem übersehen?

Ich setze meine Lesebrille ab. In Freiburg bin ich heute Abend. Gestern war Konstanz, vorgestern Salzburg, und dann wird es leer in meiner Erinnerung. Nur diverse Pensionszimmer tauchen auf und ein anonymes Hotel, in dem ich zehn Minuten brauchte, um den Fernsehapparat zum Schweigen zu bringen, der sich durch Öffnen der Zimmertür mit einer Chipkarte automatisch eingeschaltet hatte. Morgen ein Tag Pause, dann kommen Berlin und der Norden. Aber jetzt ist Freiburg dran, ein Veranstaltungsort in Uninähe; ich habe signiert und geduldig Fragen beantwortet und werde es weiter tun, obwohl die Luft dick und schwer ist und mein BH schon lange an den Rippen klebt.

Sehr helle Augen sehen mich durch blauschwarze Haarsträhnen an. Ein Mann, ein junger Mann. Auch das ist außergewöhnlich. Wenn Frauen in den besten Jahren lesen, dann hören fast immer Frauen in noch besseren Jahren zu. Opalaugen mit silbrigen Ringen, über die ich Gedichte schreiben könnte, wäre ich nicht so eine grottenschlechte Lyrikerin. Irgendwelche Schleier würden darin vorkommen, oder Eisberge und Gletscher, die bald wieder glühen. Ich bin froh, dass ich sitze, denn meine Kniekehlen fahren auf einmal Karussell. Das ist lange nicht mehr passiert ...


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